Beim zweiten EU-Türkei-Flüchtlingsgipfel
wird es um die neuen Forderungen der Türkei gehen und natürlich um Lösungen für
die nach wie vor kontrovers diskutierte Flüchtlingsproblematik. Bei der von
Kanzlerin Angela Merkel angestrebten Verteilung von Flüchtlingen hakt es ebenso
wie unter anderem bei der Frage der Grenzöffnung. Die Balkanländer und
Österreich habe die Balkanroute faktisch geschlossen. Aber auch der Deal mit
der Türkei ist umstritten, nicht zuletzt weil die Regierung einen Rückbau der
Demokratie im eigenen Land betreibt. Angela Merkel ist mit ihren Vorstellungen
zur Flüchtlingspolitik zunehmend isoliert. Ob es für sie auf diesem Gipfel eine
gesichtswahrende Lösung gibt, das hängt nicht zuletzt wahrscheinlich auch am
Geld, um das es dabei geht.
Die Türkei – der große Profiteur vom EU-Flüchtlingsstreit?
Die EU hat der Türkei bereits drei
Milliarden Euro für die bessere humanitäre Versorgung von Flüchtlingen zugesagt.
Doch die Regierung in Ankara will weitere drei Milliarden. Darüber hinaus
fordert sie im Gegenzug für die Rücknahme von Flüchtlingen die Aufhebung der
Visumspflicht für türkische Staatsbürger bereits zum Juni 2016 und eine
verbesserte Ausgangsbasis für den EU-Beitritt.
Unabhängig davon stellt die EU inzwischen
insgesamt 700 Millionen Euro als Nothilfe für die humanitäre Versorgung von
Flüchtlingen in besonders betroffenen Mitgliedstaaten zur Verfügung. Besonders
betroffen ist aber auch Deutschland.
Vor dem Hintergrund der aufgeheizten Debatte
und angesichts des gegenwärtigen Standes der Diskussion über mögliche Lösungen
und deren Kosten erscheint es sinnvoll, einmal die Relationen in den Blick zu
nehmen. Denn erst dann erscheint eine Bewertung der Lösungsvorschläge und der
Lastenverteilung auf europäischer Ebene überhaupt möglich. Dabei geht es um
humanitäre Not in der EU und zwar nicht nur die der Flüchtlinge und es geht um
die wirtschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen für die Bewältigung dieser
Herausforderungen in den Mitgliedstaaten.
Merkels „Willkommenspolitik“ vergrößerte den Flüchtlingsstrom
Abbildung 1
zeigt die Entwicklung der Zahl der erstmaligen Asylbewerber in der EU und jenen
Ländern, in denen besonders viele Anträge gestellt wurden für die Jahre 2008
bis 2015.
Abbildung 1: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
Selbstverständlich bildet die Zahl der
Asylbewerber die Zahl der in die EU geströmten Flüchtlinge nur unzureichend ab.
Das hängt mit illegalen Zugängen, aber unter anderem auch mit der Registrierung
von Flüchtlingen zusammen.
Beim Blick auf die Abbildung wird zunächst
klar, dass die Asylbewerberzahlen in der EU zwar seit langem steigen, ein
verstärkter Anstieg aber erst seit 2014 und mehr noch in 2015 zu beobachten
war. Insgesamt zählte die EU 2015 über 1,2 Millionen erstmalige Asylbewerber.
Zum Jahreswechsel erwartete die Europäische Kommission bis 2017 den Zustrom
weiterer drei Millionen Flüchtlinge. (2) Ob diese Schätzung angesichts der
inzwischen faktisch geschlossenen Balkanroute noch haltbar ist, ist allerdings fraglich.
In Griechenland ist es deswegen zu einem Flüchtlingsstau gekommen.
Abbildung 2
veranschaulicht die Entwicklung der Asylbewerberzahlen in den letzten beiden
Jahren auf monatlicher Basis.
Abbildung 2: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
Besonders markant ist der Anstieg auf
europäischer Ebene ab April/Mai 2015. Nur drei Länder haben in dieser Betrachtung
eine besonders auffällige Entwicklung bei den Asylbewerberzahlen, nämlich
Deutschland, Ungarn und Schweden. In Österreich, Italien und Frankreich blieben
die monatlichen Asylbewerberzahlen indes deutlich unter 15.000.
Die Entwicklung ist genauer zu erkennen,
wenn man die Zahlen für die EU insgesamt einmal außer Betracht lässt, was in Abbildung 3 geschehen ist.
Abbildung 3: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
In diesem Chart zeigt sich, dass die vom
Flüchtlingsstrom am stärksten ansteuerten Zielländer Deutschland, Ungarn,
Schweden, Österreich (rot), Italien (hellgrün gestrichelte Linie) und
Frankreich (blau) sind.
Die Entscheidung der Bundesregierung von
Anfang September, die Grenzen bedingungslos für Flüchtlinge zu öffnen und der
dadurch ausgelöste Medienrummel, hat bei den Asylbewerberzahlen deutliche
Spuren hinterlassen. In Ungarn brach unmittelbar danach die Zahl der Asylanträge
ein, in Schweden und Deutschland schoss sie dagegen in die Höhe.
1 bis 3 Millionen Flüchtlinge versus 122 Millionen verarmte EU-Bürger
Nichtsdestotrotz geht es um die humanitären
Bedingungen und die Versorgung von „nur“ etwa ein bis drei Millionen
Flüchtlingen. Denn die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffenen
Bürger der EU ist zwischen 2009 und 2014 ebenfalls kontinuierlich, aber erheblich
stärker gestiegen und zwar von 114,5 Millionen auf 122,3 Millionen. Das heißt,
in diesem Zeitraum hat sich die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung Bedrohter
um knapp 7,8 Millionen vergrößert. Das entspricht einem Anstieg um 6,8 Prozent.
Mehr noch ist die Armut gerade in jenen
EU-Mitgliedstaaten besonders stark gestiegen, die einen austeritätspolitischen
Kurs verfolgt haben oder es noch immer tun. Zum Teil wurden sie aufgrund der
Notwendigkeit der Inanspruchnahme finanzieller Hilfen von der Euro-Gruppe und
dem IWF dazu gezwungen. Millionen Menschen sind infolgedessen in die Armut
abgerutscht und leben unter zum Teil katastrophalen humanitären Bedingungen –
beispielsweise in dem auch von der Flüchtlingskrise stark betroffenen Griechenland.
Es erscheint auf groteske Weise bizarr,
dass die Staats- und Regierungschefs der EU unter anderem die Bevölkerung Griechenlands
und Portugals mit ihrer Sanierungspolitik in die Armut zwingen, zugleich aber bereit
sind, Finanzhilfen in Milliardenhöhe bereitzustellen, um für eine angemessene
humanitäre Versorgung von Flüchtlingen zu sorgen.
Abbildung 4
zeigt die Entwicklung der Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung
Bedrohten in ausgewählten EU-Mitgliedsaaten.
Abbildung 4: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
EU-Länder, die auf der Balkanroute oder
einer benachbarten Flüchtlingsroute liegen, sind in der Abbildung blau
unterstrichen. Unschwer zu erkennen ist, dass es sich dabei um Länder mit zum
Teil extremer Armut handelt (Rumänien, Bulgarien, Griechenland).
Davon abgesehen zeigen sich im Chart sehr
deutlich die Folgen der Austeritätspolitik. So stieg von 2009 bis 2014 die Zahl
der von Armen und sozial Ausgrenzten zum Beispiel in:
- Griechenland: +878.000 (Steigerung: +29,2%),
- Irland: +115.000 (Steigerung: +10%)
- Portugal: +215.000 (Steigerung: +8,12%)
- Spanien: +2.066.000 (Steigerung: +18,23%)
- Italien: 2.347.000 (Steigerung: +15,86%
- Zypern: +46.000 (Steigerung: +24,47%)
- Ungarn: +173.000 (Steigerung: +5,92% (bis 2013: +464.000 (Steigerung: +15,87%))
- Slowenien: +71.000 (Steigerung: 20,94%) und in
- Großbritannien: +1.799.000 (Steigerung: +13,44%).
Noch deutlicher tritt die
Armutsproblematik in den angesprochenen Ländern hervor, wenn man die Zahlen ins
Verhältnis zur Gesamtbevölkerung setzt, was in Abbildung 5 geschehen ist.
Abbildung 5: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
Kroatien, Bulgarien, Ungarn Rumänien und
Griechenland – also gerade Länder, die aktuell besonders mit dem
Flüchtlingsstrom vor allem nach Deutschland zu kämpfen haben – sind eindeutig
die europäischen Mitgliedstaaten mit der höchsten Armutsquote. In keinem
anderen EU-Mitgliedsland ist diese Quote seit 2009 so stark gestiegen wie in
Griechenland.
Unter anderem für die genannten Länder
gibt es nun von der EU für Flüchtlinge bereitgestellte Gelder aus dem 700 Millionen
Euro schweren Nothilfe-Paket. An der Armutsproblematik ändert sich dadurch
jedoch nichts. Sie wird im Gegenteil bedingt durch die Austeritätspolitik sogar
noch weiter verschärft. Darin kommt die ganze Absurdität der aktuellen europäischen
Krisenpolitik zum Ausdruck.
Freilich muss Flüchtlingen geholfen werden.
Aber es kommt darauf an, wie die Lasten verteilt werden und es spielt dabei eine
zentrale Rolle, wer den massiven Anstieg der Flüchtlingszahlen in besonderer
Weise mit zu verantworten hat.
Es erscheint deswegen angebracht, auch
einmal einen Blick auf die Wirtschaftskraft der betroffenen Staaten und auf die
dortige Vermögenssituation zu werfen.
Flüchtlingskrise, Vermögensverhältnisse und die Frage der fairen Lastenverteilung
Bei Betrachtung von Abbildung 6 fällt auf, dass die Länder an der Balkanroute –
abgesehen von Griechenland und Österreich – auch auf der Vermögensseite die
ärmsten der EU sind.
Abbildung 6: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
Deutlich zu erkennen ist aber ebenso, dass
der Anteil am gesamten Privatvermögen in der EU besonders in Ländern mit austeritätspolitischem
Kurs sukzessive stark gesunken ist. Dazu gehören vor allem Italien, Spanien,
Griechenland und Portugal. Großbritanniens Anteil am gesamten EU-Privatvermögen
ist indes trotz eines – wenn auch eher schwachen – austeritätspolitischen
Kurses so stark gestiegen wie in keinem anderen Mitgliedstaat.
Doch das spielt in der auch von der
britischen Regierung vehement geführten Debatte über den Umgang mit dem
Flüchtlingsproblem und den daraus resultierenden finanziellen Lasten keine
Rolle. Abbildung 7 zeigt, um
welche Beträge es bei dem auf Länderebene aggregierten Privatvermögen wirklich geht.
Abbildung 7: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
Das ist vor allem deswegen durchaus
relevant, weil es sich bei den von der Türkei für die Flüchtlingsproblematik
verlangten sechs Milliarden Euro und den von der EU für die betroffenen
Mitgliedstaaten bereitgestellten 700 Millionen Euro letztlich um Steuergelder
handelt. Eine faire Lastenverteilung spiegelt sich darin eher nicht wieder.
Ähnliches gilt ebenso, wenn man die
Wirtschaftskraft der EU-Staaten in die Betrachtung mit einbezieht.
Flüchtlingskrise und Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten
Unzweifelhaft nimmt Deutschland die
meisten Flüchtlinge auf. Das ist ein humanitärer Akt und wenn man die Wirtschaftskraft
als Grundlage für die Beurteilung heranzieht, dann kann Deutschland sich das
eher leisten als irgendein anderer EU-Mitgliedstaat. Denn Deutschland ist
gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) das mit Abstand stärkste Land in der EU,
wie Abbildung 8 verdeutlicht.
Abbildung 8: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
Zudem ist die Wirtschaftsleistung Deutschlands
in den zurückliegenden Jahren stark gestiegen. Lediglich in Großbritannien war
der Anstieg steiler. Trotzdem liegt auch Großbritannien noch immer deutlich
hinter der deutschen Volkswirtschaft. Die Mitgliedstaaten an der Balkanroute
und in der Nachbarschaft sind hingegen wirtschaftlich gesehen schwach. Das
heißt, dass auch die dem Staat daraus zufließenden Einnahmen kaum Spielräume
eröffnen, um größere zusätzliche finanzielle Herausforderungen oder zugewiesene
Lasten infolge des Flüchtlingsproblems zu stemmen.
Beim Blick auf die jeweiligen
Länderanteile am BIP der EU insgesamt (siehe Abbildung 9) fällt zudem auf, dass die Länder an der Balkanroute
allesamt jeweils weniger als ein Prozent der Wirtschaftsleistung der EU
ausmachen. Griechenland kommt auf knapp 1,3 Prozent, Österreich auf etwa 2,4
Prozent.
Abbildung 9: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
Deutschland kommt indes auf einen Anteil
von knapp 21 Prozent. Großbritannien, in dieser Hinsicht die neue Nr.2 Europas,
kam 2015 auf einen Anteil gut 17,5 Prozent. Frankreich ist zurückgefallen,
Spanien und Italiens Wirtschaft sind regelrecht abgestürzt.
Zusammenfassung und Fazit
In der nachfolgenden Tabelle sind noch einmal zusammenfassend die wichtigsten Fakten aus
der vorangegangenen Analyse aufgeführt, was die Relationen der Probleme „Flüchtlingskrise“
und „Armut“ zueinander sowie die wirtschaftlichen und finanziellen
Voraussetzungen für einen Lösungsbeitrag zur Flüchtlingskrise noch einmal anschaulich
in den Blick rückt.
Zum Vergrößern bitte Tabelle anklicken!
Auf allen angesprochenen Ebenen zeigt sich
dabei die Schiefe in der Diskussion über eine Lösung der Flüchtlingskrise (und eigentlich
generell der humanitären Probleme) auf europäischer Ebene, so wie sie vor allem
von der Bundesregierung gefordert wird.
Freilich kann in den Fakten der Tabelle
die Frage, inwieweit jeweils wer für das starke Anschwellen des
Flüchtlingsstroms Verantwortung trägt, keinen Ausdruck finden. Ohne Zweifel
spiel aber gerade auch das im Streit in der EU eine große Rolle – und viele
Regierungen sehen in diesem Punkt eine entscheidende Mitschuld bei der
Willkommenspolitik der Bundeskanzlerin.
Ungeachtet dessen spielt aber die
Absurdität, einerseits Flüchtlingsarmutsfolgen vehement bekämpfen zu wollen, andererseits
aber eine im Vergleich viel drastischere Ausweitung der Armut für die gewählte
Form der lediglich versuchten Sanierung
der Staatsfinanzen von Schuldenstaaten billigend in Kauf zu nehmen, in der
gegenwärtigen Diskussion über die Flüchtlingskrise keine Rolle.
Auch das kann man als Zeichen der tiefen Sinnkrise
werten, in der sich die Europäische Union befindet. Aber vielleicht sollten die
7,8 Millionen Menschen, die in der EU seit 2009 zu einem nicht unwesentlichen Teil
als politischer Kollateralschaden neu in die Armut oder die soziale Ausgrenzung
abgerutscht sind, einfach Asyl bei der EU (oder in Deutschland) beantragen. Wir
können allerdings sicher sein, dass beim EU-Türkei-Flüchtlingsgipfel darüber
nicht verhandelt werden wird. Schade eigentlich.
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