Lassen wir einmal für einen Moment das
Verhalten der russischen Regierung und der russischen Staatsmedien außer
Betracht, die ihre eigene Sicht und Interpretation der Ukraine-Krise haben und verbreiten,
die, wie zu betonen ist, ganz sicher keineswegs immer objektiv ist. Denn bisher
sind sowohl die außenpolitische „Ausein-andersetzung“ – diese Begriffswahl
erscheint angemessen – zwischen dem Westen und der Ukraine auf der einen sowie
Russland und den Separatisten auf der andere Seite als auch die Schlacht in den
Medien zugunsten der westlichen Allianz verlaufen.
Eine wahre Flut von Berichten und Meldungen, aber wenig Information
Dabei spielte eine wesentliche Rolle, dass
es auch oder vielleicht sogar ganz besonders auch der Westen mit der vorherigen
Prüfung und Verifizierung von Informationen keineswegs sehr genau genommen hat.
Daran hat sich im Übrigen im Wesentlichen nichts geändert. Verlautbarungen von
offiziellen Stellen, der Nato und von Politikern werden uns auch ohne Belege nach
wie vor als unerschütterliche Tatsachen verkauft.
Der Westen führt, wenn man so will, nach
Punkten in der Beeinflussung des Bildes, das die Weltöffentlichkeit von den Motiven
und Antrieben der Ukraine-Krise sowie vor allem auch in der Schuldfrage hat. Russland
und die Separatisten, die von Beginn an als verlängerter Arm Moskaus bezeichnet
wurden – gerade so, als hätten sie überhaupt keine eigenständigen Interessen –,
sind die Schuldigen. Nur sie allein können die Krise deeskalieren. Der Westen
und vor allem die Regierung in Kiew, brauchen und können dafür praktisch so gut
wie nichts tun.
Das mag man so akzeptieren. Tatsache ist
jedoch, dass viele Menschen – ganz besonders in Russland, aber beispielsweise
auch in China und selbst im Westen – Probleme haben, das so zu schlucken, wie
es ihnen über die Medien angeboten wird.
Das ist vereinfacht zusammengefasst die
Situation.
Die essentielle Botschaft des Westens im Ukraine-Konflikt
Wenn es so etwas wie einen roten Faden
gibt, der sich als westliche Botschaft über die gesamte Zeitspanne der
Ukraine-Krise hinweg durch die Berichterstattung im Westen zieht, dann ist es
das in den westlichen Medien transportierte Bild vom aggressiven, expansionistischen
und unaufrichtigen Russland.
Wer zu dieser Schlussfolgerung gelangt,
der kommt in der Bewertung und Einordnung der Botschaft nicht daran vorbei
festzustellen, dass dies ein grobschlächtiges, plakatives und emotionalisierendes
Bild von einem Gegner ist, mit dem man sich kurz vor oder bereits in einem
Krieg oder einer Art von Krieg befindet. Es dient der Legiti-mation von
„Vergeltungs-“Maßnahmen und zielt darauf ab, in der Bevölkerung und vor allem
auch unter den Parla-mentariern den erforderlichen Rückhalt dafür zu bekommen.
Wer ein solches Bild in der breiten Öffentlichkeit
prägt, auch und gerade durch fortlaufende Wiederholungen, dem geht es nicht um Deeskalation, nicht um eine nüchterne und objektive
Bewertung einer Konfliktsituation.
Das gilt im Grundsatz selbstverständlich
für Russland und den Westen
gleichermaßen.
Das personifizierte Feindbild im Ukraine-Konflikt
Es ist dabei absolut zweckmäßig, ein
personalisiertes Feindbild zu prägen, weil so der Zorn und mithin auch der Hass
der Menschen viel effektiver geschürt werden kann. George Orwell hat das in
seinem Buch „1984“ mit den „Hass-Sendungen“, die regelmäßig und in kurzen
Abständen erfolgten und an denen alle Parteimitglieder teilzunehmen hatten,
sehr treffend und genau beschrieben. Die sogenannten Hass-Sendungen begannen
stets mit der Einblendung des Gesichts des Staatsfeindes Nummer 1, Emmanuel
Goldstein. Im Irak war, wie sich gewiss jeder erinnern wird, Saddam Hussein das
von Politikern und in den Medien kommunizierte Feindbild. In Libyen war es
Muammar Gaddafi. Im Ukraine-Konflikt, der in den westlichen Medien inzwischen
immer öfter als Russland-Ukraine-Konflikt bezeichnet wird, ist der russische
Präsident Putin das personifizierte Feindbild.
Dass es so ist und wie sehr dabei ein
spezifisches, keineswegs objektives Bild von Putin gezeichnet wird, kann jeder
einmal selbst anhand eines exemplarischen Vergleichs von zwei Skizzen Putins
und seiner Absichten nachvollziehen, in denen jeweils sogenannte
Russland-Experten, nämlich der Journalist und Buchautor Boris Reitschuster
(1) und Sharon Tennison, Präsidentin der in Russland tätigenNicht-Regierungs-Organisation „Center for Citizen Initiatives“ (CCI) (2),
ihre Sicht und ihr Verständnis dieses Mannes darlegen.
Von mir dazu nur so viel: Wenn man beides
gelesen hat, dann fragt man sich unweigerlich, ob die beiden Experten von
derselben Person sprechen.
Die Initiatoren der westlichen Medien-Botschaft
Bezogen auf den Ukraine-Konflikt gibt es keinen
Zweifel darüber, wer dieses Bild vom aggressiv expandierenden und unaufrichtigen
Russland/Putin in die westlichen Medien forciert und immer wieder neu
auffrischt. Insbe-sondere die Regierung in Kiew, aber vor allem auch die Nato sowie
die US-Regierung sind immer wieder zuerst mit nicht oder nicht ausreichend
belegten schweren Vorwürfen gegenüber Russland an die Öffentlichkeit gegangen.
Auf diese Weise wurden die Europäer, die
der „Informationsfront“ im Ukraine-Konflikt stets hinterherhechelten und sich zudem
eher halbherzig darum bemühten, eine unabhängige und den eigenen Interessen
angemessene Position einzunehmen, regelmäßig unter Zugzwang gesetzt. Es scheint
so, als sei am Ende der Debatte auch immer nur die Position der USA in Europa
mehrheitsfähig gewesen. Denn letztlich folgten die europäischen Staats- und
Regierungschefs stets dem Drängen der USA.
Die gesendete Botschaft hat die politische Ausgangslage in Europa verändert
Damit hat sich Europa auf einen
Ukraine-Krisenkurs begeben, der sukzessive die politische Ausgangslage in
Europa verändert hat und zwar durchaus im Sinne der USA.
Das wird für Europa auf dem anstehenden
NATO-Gipfel in Wales nicht ohne Konsequenzen bleiben. Denn bedingt dadurch muss
jetzt dort über Maßnahmen entschieden werden, die vor allem außen- und
verteidigungspolitischen Kerninteressen der USA entsprechen, aber bisher von
der US-Regierung in der EU nicht erfolgreich vorangebracht werden konnten.
Es geht konkret darum, die Aktivitäten der
NATO in Osteuropa auszuweiten, was als Politik der Eindämmung (Containment) Russlands
interpretiert werden kann. Ferner sollen die Mitgliedstaaten der Europäischen
Union dafür auch ihre Verteidigungsausgaben erhöhen.
NATO-Gipfel: Die USA ernten die Früchte ihrer Arbeit im Ukraine-Konflikt
Die USA würden davon erheblich profitieren.
Denn die außen- und verteidigungspolitischen Ziele der USA mit Blick auf
Russland würden dann mit mehr Nachdruck verfolgt als bisher. Gleichzeitig
würden den USA dadurch keine oder zumindest kaum zusätzliche finanziellen
Belastungen entstehen.
China ergeht es im asiatisch-pazifischen
Raum mit den USA schon seit längerem nicht anders als Russland seit kurzem in
Europa. Das darf bei der Bewertung des Ukraine-Konflikts nicht außer Acht
gelassen werden. Präsident Obama hatte auf seiner jüngsten Asien-Reise den
Nachbarländern Chinas vor dem Hintergrund der Insel- sowie zahlreicher
Grenzstreitigkeiten versprochen, dass die USA im asiatisch-pazifischen Raum
weiterhin ihre Rolle als Schutzmacht aktiv wahrnehmen werden. (3) Das hat er
jetzt vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts und kurz vor dem NATO-Gipfel
auch den Ländern des Baltikums versichert. (4)
Hier ist es das übermächtige,
expansionslüsterne und aggressive Russland, dem sich die USA entgegenstellen.
Dort ist es das übermächtige, aggressive und expansionistische China.
Die USA hatten China, aber nicht Russland auf ihrer geopolitischen Rechnung
Geopolitisch betrachtet ist Russland aus
der Perspektive der USA jedoch ein offensichtlich unerwartetes, neues Problem.
Denn eigentlich hatte Präsident Obama den wirtschafts-, außen- und
verteidigungspolitischen Schwerpunkt bereits Ende 2011 von Europa in den
asiatisch-pazifischen Raum verlegt. (5)
Allerdings fährt er trotzdem die Kosten
für den US-Verteidigungshaushalt deutlich zurück. In Anbetracht der rasant
gestiegenen Staatsverschuldung der USA und der Notwendigkeit, die
Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen, ohne bei den innenpolitischen Zielen
Abstriche machen zu müssen, bleibt ihm auch kaum eine andere Wahl. Gerade erst
hat das überparteiliche Congressional Budget Office (CBO) seine Prognose für das
Wachstum der US-Wirtschaft in diesem Jahr nach unten und die für das
US-Haushaltsdefizit nach oben korrigiert. Die US-Wirtschaft soll demnach 2014
nur um 1,5 Prozent wachsen. Die Defizitprognose wurde von 492 auf 506
Milliarden Dollar erhöht. (6)
Kosten für internationale Sicherheit abwälzen, strategische Verantwortung behalten
Deswegen sollen sich die Partnerstaaten
stärker als bisher engagieren oder besser gesagt einbinden lassen und damit
auch einen größeren Teil der Kosten für die internationale Sicherheit
übernehmen, für die die USA jedoch strategisch die Gesamtverantwortung behalten
wollen. Das dürfte auch das Ziel der USA für den Nato-Gipfel in Wales sein.
Im asiatisch-pazifischen Raum ist die
Regierung von Shinzo Abe bereits auf diese neue außen- und
verteidigungs-politische Linie der USA eingeschwenkt. Japan rüstet nicht nur
massiv auf, wofür 230 Milliarden Dollar für die nächsten fünf Jahre eingeplant
sind. (7) Vielmehr hat die Regierung jüngst – nach langen und zähen
Verhand-lungen mit dem zuvor ablehnend eingestellten Koalitionspartner (8) –
auch den pazifistischen Artikel 9 der Verfassung zwar nicht aufgehoben, aber
eine neue Auslegung desselben beschlossen (9), die den verteidigungs-politischen
Aktionsspielraum deutlich erhöht hat und Japan eine aktivere Rolle in der
regionalen Sicherheitsarchi-tektur ermöglicht (10).
Game Over: Europa kann nicht mehr zurück
Der NATO-Gipfel in Wales strebt jetzt für
Europa offensichtlich ebenfalls eine aktivere Rolle in der regionalen
Sicherheitsarchitektur an. Weil die ewig uneinigen, streitenden und zaudernden
Europäer das von den USA, der Ukraine und der NATO selbst über die westlichen
Medien erfolgreich geprägte neue Feindbild vom aggressivem, expansionistischen
Russland nicht nur akzeptiert, sondern mitgetragen haben, werden sie sich einer
aktiveren Rolle für die regionale Sicherheit unter der Führung der USA kaum mehr
verschließen können.
Aus Sicht Washingtons wäre das die denkbar
beste Lösung. Europa zahlt für die Ukraine und für die Eindämmung Russlands und
trägt obendrein auch noch die Hauptlast der negativen wirtschaftlichen Folgen
der forcierten Sanktionsspirale, die Teil der Eindämmungspolitik ist. Mehr noch
wird Europa, wenn es so läuft, politisch und wirtschaftlich geschwächt aus der
Ukraine-Krise hervorgehen. Zu einer anderen, unabhängigen und den eigenen
Interessen dienlichen Politik ist es scheinbar aber auch gar nicht in der Lage.
In einer alten Regionalstudie für das
Bergische Städtedreieck Wuppertal, Solingen und Remscheid, in dem es
bekanntermaßen sehr oft regnet, findet sich eine wunderbare Metapher als
Erklärung dafür, warum seinerzeit für eine ökonomisch sinnvolle und nutzbringende
politische Kooperation die Einsicht nicht vorhanden war, nämlich, dass dort die
Menschen schon mit dem vielleicht blickverstellenden Regenschirm zur Welt kommen.
Auch in Europa insgesamt scheint es sehr
oft zu regnen.
Politisch betrachtet mutiert der
Ukraine-Konflikt für die Europäische Union immer mehr zu einer Art
Bermuda-Dreieck: Sie verschwindet im politischen Powerplay des Kräfte-Dreiecks
USA – NATO – Russland. Eigentlich ist es so betrachtet kein Wunder, dass auch der
Euro schwächelt.
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